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27.08.2018

Interview mit Bürgermeister Rainer Voß zu den Themen "Flucht und Integration" in Ratzeburg

Die Themen "Flucht und Integration" werden aktuell nur selten mit der gebotenen Sachlichkeit und Nüchternheit diskutiert, die eigentlich erforderlich wären, um nachhaltige und tragbare Lösungen zu finden in einer schwierigen Aufgabestellung für Kommunen, Land und Bund. Das Gegenteil ist eher der Fall. Die aktuelle Auseinandersetzung ist wenig zielführend und trägt dazu bei,  das gesellschaftliche Klima nachhaltig zu verschlechtern, gerade auch in der Themensetzung, der mangelhaften Erklärung von Faktenlagen und vor allem in der Wortwahl,  die wie schon zu Beginn der 1990er Jahre dazu beigetragen hat, Menschen zu rassistisch motivierten Straftaten zu verleiten. Vielleicht ist der Verweis auf die Geschehnisse von Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen und die Ereignisse von 1992 dabei wichtig, um die kritische Sensibilität vor Ort für diese Vorgänge zu verstehen. In diesem Sinne gab Bürgermeister Rainer Voß in einem Interview der Lübecker Nachrichten, dass Florian Grombein führte und in Auszügen veröffentlichte, eine umfangreiches Interview, mit dem Ziel in sachlicher Weise und fundiert über die Lage vor Ort zu informieren. Das Interview ist hier in voller Länge dargestellt.

Wieviel Flüchtlinge leben zur Zeit in Ratzeburg?

Diese Frage ist aus Sicht der Stadt nicht ganz einfach zu beantworten, da inzwischen aus vielen Flüchtlingen Geflüchtete geworden sind, mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus und in Betreuung des Jobcenters, nicht mehr des Sozialamtes. Viele haben damit die freie Wohnortwahl, dass wir zu wenigen Zuzügen (20 Personen) in diesem Jahr, ebenso viele Wegzüge beobachten. Wir können mithin festhalten, dass seit 2015 rund 360 Personen zu uns nach Ratzeburg gekommen sind und diese Zahl stagniert bis rückläufig ist. Familienzusammenführungen sehen wir dabei derzeit eher im Einzelfall und als Ausnahmen.

Gibt es für die Stadt Ratzeburg Erfolgsmeldungen in Sachen Integration?

Die gibt es durchaus … die Kinder und Jugendlichen finden erfreulich schnell ihre Wege in die städtischen Kitas sowie in DaZ-Zentrum an der Gemeinschaftsschule. Unsere Volkshochschule hat hervorragend auf die Herausforderungen reagiert und seit 2015 ein aufbauendes Sprachkursangebot etablier, in dem bis Ende 2017 865 Personen beschult wurden, von der Alphabetisierung bis hin zum beruflichen Sprachniveau  B2.

Wir beobachten zunehmende Ausbildungs- und Arbeitsaufnahmen von Geflüchteten, vor allem in Bereich der Pflege oder des Handwerks. Wir freuen uns über diese Beispiele,  wissen dabei aber auch um die Langfristigkeit von Arbeitsmarktintegration, deren Dauer in der Regel 6 – 8 Jahre in Anspruch nimmt. Hier ist Geduld eine ganz wichtige Qualität, sowohl auf Seiten der zugewanderten Menschen als auch auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Die Richtung, dass Arbeit und eigenständige Lebensführung für die Allermeisten das größte Bestreben ist, ist jedoch absolut erkennbar. Viele Geflüchtete haben inzwischen einen Arbeitsplatz gefunden oder eine Ausbildung angefangen - auch im Rathaus selbst.

Es gibt, trotz anhaltender negativer Diskussion über das Thema „Migration“ , in Ratzeburg nach wie vor eine Offenheit im Umgang miteinander und eine Bereitschaft, sich zu begegnen. Dies zeigen Festveranstaltungen wie das persische Neujahrsfest „NOURUZ“, bei dem über 400 Menschen in der Lauenburgischen Gelehrtenschule zusammentrafen und fröhlich feierten, in diesem Jahr mit einem deutlichen höheren Anteil von einheimischen Bürgern. Die interkulturelle Jugendarbeit im GLEIS 21 und STELLWERK arbeitet vorbildlich in dieser Weise, ebenso ist die Unterstützung durch unsere „Partnerschaft für Demokratie“ dabei immer wieder hilfreich und setzt Akzente der Begegnung, aber auch der Diskussion zu politischen Themen wie Migration.  Die Familienbildungsstätte leistet ebenfalls einen großen Beitrag und auch die Kirchengemeinden.

Besonders erfreulich sind dabei natürlich wiederkehrende Rückmeldungen aus den Reihen der Geflüchteten, die Ratzeburg als sehr gastfreundliche, offene und menschliche Stadt wahrnehmen.

Von welchen Herausforderungen stehen Kommunen wie Ratzeburg aktuell bei der Integration?

Natürlich sind die Herausforderungen weiterhin groß und die Stadt arbeitet eng mit allen Institutionen vor Ort zusammen, die in diesem Arbeitsfeld eine Aufgabe habe und Beiträge leisten können. Es gibt inzwischen einen kommunalen Arbeitskreis „Integration“, auf dem über Probleme gesprochen und beraten wird, wie auch über Fortschritte und beispielhaft Gelingendes.

Konkrete Herausforderungen liegen derzeit vor allem im Bereich der Schule und des Spracherwerbes.

So zeichnet sich ein erhöhter Unterstützungsbedarf bei Schüler*innen ab, die nach dem ersten Schuljahr in den „DaZ“-Klassen in den Regelunterricht wechseln. Dieser Übergang ist nicht immer einfach und von einem enormen Druck für die Schüler*innen begleitet. Die erworbene Sprachkompetenz reicht oft noch nicht aus, um dem Unterricht zu folgen und der Förderbedarf bleibt entsprechend hoch. Hier wird, auch auf Betreiben der Schulleitung, sehr intensiv an einem Netz von Unterstützung gearbeitet, um die Situation zu vermeiden, dass Schüler*innen aufgrund von Sprachbarrieren keine adäquaten und ihrem eigentlichen Leistungsniveau entsprechende Schulabschlüsse erreichen. Eine weitere Schwierigkeit in diesem Kontext ist die Zusammenarbeit von Schule und Eltern. Das deutsche Schulsystem, in seinem Aufbau, seiner Organisation und seinem Leitbild, ist für viele geflüchtete Eltern sehr fremd und nur schwierig zu durchschauen. Sprachbarrieren verhindern dabei immer wieder den direkten Kontakt zwischen Lehrern und Eltern. An dieser wichtigen Schnittstelle muss und soll auch seitens der Schulleitung mehr getan werden, mit wiederkehrenden, sprachgruppenbezogenen Elternabenden, die Brücken bauen sollen.

Mit Blick auf den fortschreitenden Spracherwerb von erwachsenen Geflüchteten ist festzustellen, dass hier alltägliche Begegnungsmöglichkeiten mit Einheimischen fehlen. Konversation ist ein ganz wichtiger Faktor des Spracherwerbes. Hier wäre es wünschenswert, wenn Geflüchtete, gerade auch die Erwachsenen, vermehrt den Weg in unsere Vereine finden würden.

Das Thema „Arbeitsmarktintegration“ ist Kerngeschäft des Jobcenters, dass dort mit Kompetenz betrieben wird. Dabei unterstützt vor Ort die Handwerkskammer mit dem Projekt „Alle an Bord“. Schwierigkeiten liegen hier vor allem in der Bereitschaft der Betriebe, Geflüchteten ein Ausbildungschance zu geben. Allerdings ist dabei die berechtigte Forderung aus den Betreiben nach einer sprachlichen Qualifikation, die für den Arbeitsalltag, aber auch für das Bestehen der Berufsschule geeignet ist, zu sehen und die sich daraus ergebenen längeren Zeiträume von Integration.

Ganz hervorragend ist die weiterhin anhaltende Unterstützung von Ehrenamtlichen, die sich ganz persönlich einsetzen. Zu nennen ist auch die Rotary-Club in Ratzeburg, der sich sehr stark im BBZ für die berufsvorbereitenden Maßnahmen einsetzt.

Die Frage nach Wohnunterkunft ist hingegen etwas einfacher geworden, wenn auch die Stadt immer noch Wohnungen sucht und Angebote gerne entgegennimmt.

Ein sehr schwieriges Thema zeigt sich seit einiger allerdings auch in Ratzeburg vermehrt, die Fragestellung des Umgangs miteinander. Die inzwischen  stärker negativ geführte Diskussion um Zuwanderung führt offensichtlich dazu, dass einige Menschen sich berufen fühlen, Menschen aus anderen Ländern entsprechend negativ und offen rassistisch gegenüber zu treten. Von solchen Vorfällen erfahren wir auch in Ratzeburg. Sie werden momentan noch bereitwillig berichtet, in den Sprachkursen oder den Helferkreisen, weil die Geflüchteten dort ein vertrauensvolles Verhältnis zu Einheimischen haben und offen darüber reden. Es sind zwar immer noch Einzelfälle, allerdings ist die Sorge nicht unberechtigt, dass sich das gesellschaftliche Klima angesichts des wenig vorbildlichen Agierens der Bundespolitik in Themensetzung und Wortwahl weiter verschlechtern wird und Rassismus sich zu einem größeren Problem in den Kommunen auswächst. Wir haben darauf reagiert und über unsere „Partnerschaft für Demokratie“ ein Rassismus-Monitoring gestartet. Dieses soll solche Vorfälle dokumentieren und somit auch sichtbar werden lassen.

Gibt es in Ratzeburg einen Integrationsbeirat?

Wir haben noch keinen Integrationsbeirat gegründet, lediglich vorgeplant. Wir können solch einen Beirat aber nicht verordnen. Mit einer Umsetzung müssten sich zunächst die städtischen Gremien befassen. Es ist nicht ganz einfach, funktionierende und wirksame Beiratsstrukturen für eine Gruppe von Menschen aufzubauen, die äußerst heterogen ist. Aber das Thema ist trotzdem auf der städtischen Agenda.