Seiteninhalt

Stadtteil voller Leben: Vorstadt mit Dermin

Seit 1928 hat ein anderer Sportverein seine Heimstatt in Ratzeburgs Vorstadt, das ist der Tennisverein Blau – Weiß. Seit 1982 ist er auf der Anlage mit den Plätzen, der Halle und den Vereinsräumen an der Mechower Straße zu Hause. Vorher übten die Mitglieder ihren Sport unten in der Schweriner Straße aus. Nicht weit von dieser alten Anlage entfernt wohnte ein Mann, dessen Name noch heute in der Tennishalle weiter lebt: Sie heißt Heinrich-Kruyt-Halle.

Dieser Mann, den über Jahrzehnte (geb. 1886, gest. 1978) jeder Tennisfreund in Ratzeburg und darüber hinaus nur als Franz Kruyt kannte, war zeitlebens mit seinem Verein auf das Engste verbunden. Während der Tennis-Saison konnte man ihn auf den beiden Plätzen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sehen – natürlich in Tennis-Outfit, sehr oft im Kreise der Jugend, die er in seinem Sport unterwies (und, wie man hört, nebenher auch im Skat).

Vom 5. Lebensjahr 85 Jahre lang einer sportlichen Liebe treu, wo soll man das heute noch finden?!

Aus diesen beiden Fotos können wir ein Bilderrätsel machen:

Was haben sie mit unserer Vorstadt zu tun?

Bleiben wir doch noch ein wenig hier unten in der Schweriner Straße und gehen dann die paar Schritte zum Königsdamm. Uns geht es um zwei alte Betriebe, die in dieser Ecke ansässig waren. Zuerst soll vom Jakobusbrunnen die Rede sein. Gerhard Bernhöft erinnerte sich in einem Gespräch: Diese Brausefabrik unterhalb des Vorstädter Friedhofs gehörte den Gebrüdern Raake. Hier wurde schon in etwas größerem Stil gearbeitet. Adolf Raake war für den kaufmännischen Zweig verantwortlich, Willi für den technischen. Immerhin hatten sie ein Dreirad-Auto zum Transport der Sprudel-Flaschen-Kisten. Willi fuhr dieses neumodischen Gefährt. Häufig genug hatte er Mühe, wenn es an kleinen Steigungen, etwa in der Langenbrücker Straße, wie ein störrischer Esel stehen blieb und den Anstieg verweigerte. Es wird berichtet, dass das Fahrzeug einmal vor dem Nordischen Hof in der Großen Kreuzstraße umkippte, vermutlich wegen unfachgemäßer Ladung, und alle Gäste des Lokals mit anfassen mussten, um es wieder auf seine drei Räder zu stellen. Unser Foto (natürlich das rechte!) zeigt, wie es etwa aussah.

Und was mag es nun mit dem linken auf sich haben?

„Es gab Zeiten, da die Kugel Eis bei Fietje Globert am Königsdamm-Ecke Bäker Weg noch 5 Pfennig kostete.“ Damit beginnt der Bericht, den uns Ulrich Gehrke übermittelt hat. Wir wissen jetzt also, dass es um den Gründer einer Eisdiele bald nach dem letzten Krieg gehen wird, aus der inzwischen ein Cafe geworden ist, immer noch mit Eisverkauf, immer noch neben Morgenroths Bootshafen, immer noch (natürlich) mit einer der herrlichsten Aussichten zum Dom. Gehrkes Geschichte geht weiter: „Wenn wir Kinder sogar einen Groschen geschenkt bekommen hatten, wurde der in zwei Eisportionen aufgeteilt – dann hatten wir auch zwei Hörnchen! Eines Tages, nachdem mein Freund und ich nach reiflicher Überlegung, ob wir nicht doch schräg gegenüber im Kiosk bei Dettmanns (?) die 5 Pfennig lieber in Prickel Pit oder Salmis anlegen sollten, holten wir uns eine Kugel Eis. Selig gingen wir dann an den See, die Tretboote „Hawaii“, „Liane“ und „Aloha“ sowie die großen Schildkröten von Herrn Morgenroth zu bewundern. Plötzlich lutschte mein Freund eine ziemlich große Schraube aus der Eiskugel frei. Nun wurde beratschlagt. Mit der einem 8-9jährigen gebührenden Entrüstung gingen wir zur damals noch kleinen Eisdiele und zeigten Fietje Globert den Fund. ‚Mensch, Hubertus, die habe ich ja schon lange gesucht, die gehört zum Rührwerk! Hier hast du ein neues Eis!‘ Damit war der Frieden wieder hergestellt – und wir haben eine schöne Erinnerung.“

1994 erschien im Selbstverlag von Wilhelm Lorenz ein Bändchen mit dem Titel „Ut Ratzborg un Ümto“ mit meist heiteren Erinnerungen seiner im Jahr zuvor verstorbenen Ehefrau Erni, geb. Rohde. Am Beginn behauptet sie: „Un nix dorvon is lagen, vertuscht heff ik bloots poor Namen. Süss wern Ji glieks up kamen, wer dat is un wen ik meen, em oder ehr – so en bi en.“ Erni Rohde wurde 1918 in Ratzeburg geboren und lebte mit ihren Eltern und bis zu ihrem Lebensende am Gustav-Peters-Platz. Natürlich gibt es Erinnerungen an diesen hübschen heimeligen Ort in der Vorstadt: „Ja, ja, de ganze Platz sehg ümmer ut, as wenn de Kater em afflickt harr. Keen Minsch sehg em mehr an, datt an dissen Ort mang Sandbargen un wille Heid vör poor hunnert Johrn de Ratzbörger Galgen stahn hebben sall. . . .  Wat ik noch seggen wull: Wenn Juch een vertellt, dat in Vullmaandnächten de arm Seelen vun de Hängten up’n Platz ümgaht un jammert, denn so is dat lagen. Dat sünd man bloß de Katten, achter de de Kater her is. Könnt mi’t to glöven!“

An anderer Stelle betätigt sich die Verfasserin als Stadt(teil)führerin. Im Kapitel „De Swerinerstraat up und daal twüschen 1920 un 1930“ liefert sie eine genaue Beschreibung der Grundstücke und ihrer Besitzer von Hermann Rautenberg bis Albin Stobbe auf der rechten Seite aufwärts und dann links wieder hinunter – und korrigiert dabei einen Fehler, der Friedrich Schmidt zu Beginn unserer Vorstadt-Schilderungen unterlaufen ist: Das Foto des „Busekist’schen“ Hauses ist die schöne Aufnahme von August Koops Gastwirtschaft! Auf diesen Irrtum weist uns Dr. Friedrich Bahrs hin, Sohn des Lehrers Friedrich Bahrs – und Enkel von eben dem August Koop! Erni Lorenz schreibt: „Twüschen de Smäd von Paesch un de Gastwirtschaft von August Koop güng de Weg na den Schüttenhoff, ehemals de Saabarg, rup. Dat Beste an Koop sien Gastwirtschaft wär woll för mennigen dat Beer, doch för mi de schöne olle Kastangboom. Dat hett mi bannig leed dan, as he mit dat olle Huus wegköm.“ Aber um Schmidts Ehre zu retten: Gleich um die Ecke, zum Friedhof und zum Schützenhof hoch, stand die Busekist’sche Kneipe.

Ein Link zu Erni Lorenz findet sich unter „Erinnerungen an den ‚Ratskeller‘“: „Friedrich von’n Ratskeller“. Aus der wunderschönen Geschichtensammlung folgt hier eine Erinnerung an ein anderes „Etablissement“:

Danz in't Kurhuus

Die Anregung zur Herausgabe des Bändchens gab Hans Jürß, Schulrat – und viel mehr als ein Schulrat! Er war der Begründer einer monatlichen Sonntags-Veranstaltung, die er viele Jahre lang leitete, den „Klöhnsnack an Sünndagmorgen“. Die schulische Veranstaltungsreihe „Schölers läst Platt“ ist ohne sein Engagement und sein Mitwirken nicht zu denken. Mit ihr wird der Versuch unternommen, die niederdeutsche Sprache bei so vielen jungen Menschen wie möglich am Leben zu erhalten. Und dass Jürß auf unserem Foto (Dank an die Künstler-Tochter Bruni!) vor einem alten Gemälde steht, zeigt seine innige Liebe zur Kunst; sicher hat er unzählig viele Ausstellungs-Eröffnungen bereichert und mit fundiertem Wissen unzählig vielen Interessierten Kunst und Künstler (auch aus unserer Heimat) näher gebracht.

Wie wenden uns einem anderen Schulmeister zu, der nach dem Zweiten Weltkrieg viele Jahre anerkannter Leiter der Pestalozzischule war und mit seiner Familie im Forellenweg wohnte, einem kleinen „Ableger“ der Schweriner Straße. Ewald Karsten war ein hervorragender Lehrer und Erzieher – und ein unnachahmlich humorvoller Vorstädter!

Bei „Europa-Schipper“ trafen sich eines Abends Karsten und ein Lehrer vom St. Georgsberg. „Nun, Herr Kollege, auch mal zu Gast in der Vorstadt?“ "Na ja, Herr Karsten, der Notwendigkeit gehorchend, wir haben hier eine Vorstandssitzung.“ „Bitte merken Sie sich, Herr Kollege: Wenn man in Ratzeburg Wein anbauen könnte, dann ginge das nur an den Hängen der Vorstadt!“

Eine köstliche geschichtliche Anmerkung wird unseren Nachbarn vielleicht nicht gefallen; vielleicht sind sie jedoch humorvoll genug, mit uns darüber zu schmunzeln. Karsten: „Wie konnte Till Eulenspiegel nur so dumm sein, in Mölln einzukehren!

Da steht er nun begraben seinen langen Tod lang. Wäre er doch zu uns nach Ratzeburg gekommen, dann wäre er heute noch am Leben!“ Dabei wissen wir Ratzeburger wohl, dass der Schalk heute noch in Mölln lebendig wie eh und je sein Wesen treibt.

Nun verlassen wir die Pädagogen und wenden uns einem Mediziner zu, einem Chirurgen, Dr. Wolfgang Krieg, der Mitte des vorigen Jahrhunderts Chefarzt des Wilhelm-Augusta-Krankenhauses (jetzt DRK-Krankenhaus Mölln-Ratzeburg) war. Auch um ihn ranken sich viele Geschichten, von denen Frau Christa Hauser einige erzählen kann; sie hat noch im Chef-Büro gearbeitet (und war übrigens auch so freundlich, die beiden Fotos zu besorgen). Dr. Krieg: ein sehr guter Chirurg – und ein impulsiver Mensch!

Erster Beweis: Der Chef regte sich im Büro so sehr über irgendeine Angelegenheit auf, dass er wutentbrannt einen Aktenordner auf den Fußboden schleuderte. Frau Hausers Kollegin sah ihn an, sagte: „Wenn Sie meinen, entsorgen wir unsere Akten ab jetzt eben so!“ und knallte den nächsten Ordner auf den Fußboden.  Kurzes Erstarren, dann Erstaunen – endlich befreiendes Gelächter!

Zweites Beispiel: Beim Blick in eine Akte machte dem Doktor das Entziffern irgendeines Zusammenhanges Schwierigkeiten. Er machte dafür wohl das Fehlen seiner Brille verantwortlich, griff also die vor ihm liegende und schob sie sich vor die Augen. Nur: Da saß schon eine, seine eigene! Die zweite gehörte der Sekretärin. Auch dies Problem wurde lachend aus der Welt, aus dem Büro geschafft.

Dr. Krieg konnte sehr weich, sehr menschlich handeln. Eine alte Frau begleitete ihren Mann bei der Einlieferung ins Krankenhaus. Weinend klagte sie dem Chefarzt ihr Leid: Aus verschiedenen Gründen hätte sie es für ihren schwer kranken Mann gern, wenn er ein Einzelzimmer bekäme. Sie müsste die Mehrkosten allerdings aus eigener Tasche bezahlen, und das war ihr nicht möglich. Dr. Krieg nahm sie in den Arm: „Das schaffen wir schon. Und um die Kosten machen Sie sich mal keine Gedanken, das schaffen wir auch!“

Von der Below-Kaserne in der Mechower Straße und ihrer Geschichte war schon die Rede. In der langen Reihe der Kommandeure, die die dort stationierten Truppen befehligten, war zur Zeit des BGS (Bundesgrenzschutz, Vorläufer der Bundespolizei bis 2005) Wilhelm Schulze zweifellos der bekannteste. Der Oberstleutnant (geb.1922, gest. 1991) wurde 1970 im Range eines Leitenden Polizei-Direktors Kommandeur des BGS-Standorts Ratzeburg. Schon vier Jahre später wurde er als Chef des Stabes nach Bad Bramstedt versetzt, blieb aber der Inselstadt als Bürger verbunden. Er engagierte sich im Technischen Hilfswerk, im Ruderclub, im Verein ehemaliger Jäger und, nachdem er 1990 in die Stadtvertretung gewählt wurde, in verschiedenen städtischen Ausschüssen. Überall war er präsent, nicht zu übersehen und nicht zu überhören. So berichtet z.B. Dieter Dobbertin, damals Vorsitzender der THW-Ortsgruppe, dass er, als er vormittags um 11 Uhr zum Geburtstagsempfang des Bürgervorstehers Heino Wolgast ging, dort auch Wilhelm Schulze antraf. Um 12,30 Uhr musste er weiter zum Geburtstag von Volksbankdirektor Ernst-August Schramm. Kurz nach ihm kam Wilhelm Schulze in die Tür. Nachmittags gegen 16 Uhr hatte die Landesregierung zu einem Empfang geladen. Dobbertin saß neben Kultusminister Braun – und wer saß ihm gegenüber? LtPD Wilhelm Schulze neben Ministerpräsident Lemke.

Überall war der beleibte Herr ein gern gesehener Gast, guter Gesellschafter und kompetenter Ratgeber. Allerdings: Die besten Beschlüsse, zum Wohle der Stadt oder in Vereinsangelegenheiten, wurden nach den Sitzungen am Biertisch gefasst. In seiner Trinkfestigkeit war er unschlagbar, und was er, scheinbar in Bierlaune, zugesagt hatte, das galt; dazu stand er.

Sein Umgangston war rau, aber herzlich. „Was, Sie sollen befördert werden? Ich habe Sie nicht vorgeschlagen, aber W. hat sich durchgesetzt“, erklärte er dem verdutzten Beamten auf dem Kasernenhof, „aber Sie sind ein guter Mann!“ und klopfte ihn auf die Schulter. „Wo wir sind, ist vorne!“ Das war Wilhelm.

Wilhelm Schulze erklärt Bundeskanzler Kiesinger (1966 – 1969) die Situation an der innerdeutschen Grenze und später im Gespräch mit Landrat Kroepelin

Dr. Franz Weinrich war im wahrsten Sinne eine gewichtige Ratzeburger Persönlichkeit. Er war Tierarzt und hatte sich auf die Behandlung von Pferden und Rindern spezialisiert; er hätte durchaus als Vorbild des bekannten „XXL-Ostfriesen“ dienen können, der heutzutage (2014) immer wieder über den Bildschirm poltert. Sein mächtiger Körper kam nicht von ungefähr: Er war kein Kostverächter, liebte gutes, kräftiges Essen und herzhafte Getränke. Das hatten auch seine Klienten, die Ratzeburger Schlachtermeister und die Landwirte der Umgebung erkannt, und sie verwöhnten ihn mit Kalbsbregen, zarten Filets, saftigen und anderen fetten Happen. Wenn er abends heim kam und keinen Hunger hatte, konnte man sicher sein, dass die Fleischbeschau mal wieder mit einem üppigen Schmaus geendet hatte. Auch brachte er als passionierter Jäger manch nahrhaftes Stück mit heim und ergänzte damit den reichen Vorrat seiner Speisekammer. Seinen kapitalsten Bock schoss er übrigens an einem 27. Januar, Kaisers Geburtstag (!!!), und das erfüllte ihn, den konservativen Norddeutschen, mit besonderem Stolz.

Er war ein sehr guter Gesellschafter, wenn er von solchen Ereignissen berichten konnte. Es konnte allerdings auch geschehen, dass er in der lebhaftesten Runde in seinem Sessel zusammensackte und in festen, gesunden Schlummer fiel! Sein größter Kummer war, dass er nur Töchter bekommen hatte. Welch Wunder also, als er von der Geburt seines ersten Enkels, einem Jungen (!), erfuhr, dass er alles um sich herum vergaß und sich spornstreichs auf den Weg ins Krankenhaus nach Hannover machte. In Hannover angekommen erst merkte er, dass er gar nicht wusste, in welchem Krankenhaus seine Tochter lag, und musste sich telefonisch bei der feixenden Familie erkundigen, wo er denn nun seinen Enkelsohn finden sollte.

Trotz seiner Leibesfülle war er recht beweglich, worüber er sich besonders freute, wenn er wieder einmal dem Neu-Vorwerker Domänenpächter Wilhelm Hahn begegnet war, der wie gewöhnlich seine Besorgungen in der Kreisstadt vom Kutschwagen aus erledigte. „Der hat mindestens einen Zentner mehr auf den Rippen als ich. Man muss sich nur mal ansehen, wie sich die Kutsche von seinem Gewicht zur Seite biegt!“ So der Kommentar von Franz Weinrich.

Irgendwann gab er dem dringenden Anraten seines Arztes nach, der ihn mahnte abzunehmen. Oder waren es die häufigen Verwarnungen der Polizei, die auch beim besten Willen nicht mehr bereit war, beide Augen zuzudrücken, wenn sie ihn mit Alkoholfahne am Steuer erkannten? Kurz, er hörte auf, Schnaps und Bier zu trinken und verlegte sich auf Coca Cola, nahm zusehend ab, hatte keinen Spaß mehr am Leben und starb wenig später.

Diese (wenigstens teilweise) humorvollen Erinnerungen kamen einer seiner Töchter.

Beide Fotos zeigen Dr. Franz Weinrich vor und nach seiner „Kur“. Eine nette spaßige Geschichte weiß aber zum Schluss Dr. Jörn Wulfsberg zu erzählen, der nach dem Veterinär-Studium bis 1990 Kreis-Tierarzt war. Als junger Mann hospitierte er eine Zeitlang bei Dr. Weinrich, weil es wegen der Kriegszerstörungen der Hochschule 1950 schwer war, einen Studienplatz zu bekommen. Da geschah es, dass der Gastwirt Hundt von der Bäk anrief: „Herr Dr. Sie müssen mal nach einer unserer Sauen gucken! Sie frisst nicht, torkelt im Stall umher und scharrt im Stroh herum.“ Der Doktor kam, sah sich die Sau an und sprach: „Heute ist der dritte Pfingsttag. In der Drangtonne, aus der das Tier sein Futter kriegt, gibt es nach den Feiertagen ganz bestimmt Mengen von Leckbier-Resten. Die Sau ist besoffen!“ (Für Unwissende: Drangtonne war das Behältnis für Speisereste, wovon es ja auch heute noch in einer Gastwirtschaft genug gibt, Leckbier bleibt beim Bierausschank oder nach dem Verzehr in den Gläsern übrig und wurde in die Drangtonne gekippt.) Ende der Geschichte: Der Sau wurde eine Alkohol-Entziehung verordnet, und nach zwei Tagen war alles wieder in Ordnung.

Jetzt aber wollen wir an Menschen zurück denken, an die wir uns nicht mehr erinnern. Allerdings hatten sie auch mit Viehzeug zu tun. Wenn es jemanden gibt, der uns helfen kann, weil er den Namen eines Vorfahren findet, mag er sich bei uns melden. Hier also Anfang und Ende eines alten Dokuments aus der Vorstadt:

Es gibt  kaum noch Menschen, die die alte Kurrentschrift lesen können (nicht „Sütterlin“, die entwickelte sich erst 10 Jahre später!). Hier daher die Übertragung:

Statuten der Ratzeburger Vorstadt Schweine „Versicherungs“ Gilde

I  Zweck der Gilde

Der Zweck der Gilde ist, den Mitgliedern krepierte, tricheniös befundene geschlachtete Schweine, oder sonst erkrankte Schweine, deren   Fleisch zum Genusse als unbrauchbar erklärt ist, dem ungefähren   Wert nach zu ersetzen.

Und am Ende über dem wunderschönen Schlusszeichen:

Ratzeburg, den 10ten  December 1893.
Der Vorstand   

Jochen Möller

1. Gildemeister

W. Möller

Cassirir

 

Johann Viht

2. Gildemeister

Clasen

Schriftführer

1937 har Emil Hausfeldt in de Seedörper Straat 32 noch twee Swien, Sien Söhn Korl (Johrgang 1924) vertellt:  „Vadder is up dat Bild mit een vun de beiden. He hett een slacht, dat anner verköfft.“ Korl kann noch veel vertellen ut de ollen Tiden, as noch up den Ratzbörger Markt Swiensmarkt affhollen weer, denn up den Vehmarkt.

De Farken vun Privatlüüd weern beder (un düürer!) as de vun de Buern, man eendon – „Lütt un Lütt“ (Kööm un Beer) na dat Geschäft much jedereen! Un Kneipen geef dat in de Tied noog, wenn de Mannslüüd döstig weern.

De Söög kümmt ut Damlos, dat liggt na den Knuust (Fehmarn) to. De Gill is een von de öllsten, und dat gifft se hüüt noch as Traditions-Verein, wo de Lüüd up eer Winterfest geern Plattdüütsch snackt. Man Swien gifft dat dor ook nich mehr.

Wir verlassen die Vorstadt mit einem Mann, der mit seiner Familie in der Brauerstraße, also auf der Insel wohnte, aber im Alter an der Schweriner Straße (heute die Fläche links vor dem Burgfeld) einen Kleingarten bewirtschaftete.

Dass er dort „in seinem Element“ war, beweist uns Erika Seifried mit ihrem Beitrag:

„Auch ein vertrautes Gesicht! Wer kennt noch Karl Straub? Auch er war einer von den Alten, die in Ratzeburg bekannt, gern gesehen und beliebt waren, auch heute noch manchem Bürger der Stadt in guter Erinnerung geblieben sind. Der alte Straub! Lange Jahre hatte er vor den Toren Ratzeburgs (ehemals Obstgut Vieth an der Seedorfer Straße) seine Handels-und Landschaftsgärtnerei mit 17 Gehilfen betrieben. Er hatte seine aktive Militärzeit beim Lauenburgischen Jägerbatallion abgerissen und im Ersten Weltkrieg in Russland gelegen; das waren schwere Zeiten. Im August 1965 beging das Ehepaar Straub das seltene Fest der Diamantenen Hochzeit.“ Das folgende Bild zeigt Anna und Karl an ihrem hohen Ehrentag.

Am Hochzeitstag fuhr ein Feuerwehrfahrzeug an der Brauerstraße 18 vor, die Leiter wurde ausgefahren, und ein großer Präsentkorb wurde durch das Fenster gereicht! So gehörte sich das wohl vor 50 Jahren bei der besonderen Feier eines alten Feuerwehr-Kameraden. Die Geschichte (wie die Bilder) verdanken wir Ingrid Frederiksen, Ehefrau des leider verstorbenen Straub-Enkels Uwe. Sie berichtet weiter: „Auf die Frage, ob das Ehepaar einen Wunsch hätte, antwortete es: ‚Wir sitzen so gerne auf dem Markt auf einer Bank. Aber leider bekommen wir selten einen Platz. Eine eigene Bank wäre schön!‘ Da haben Feuerwehr und Bürgermeister Schöber dafür gesorgt, dass eine Bank mit einem Schild ‚Ehrenbank für das Diamantene Paar Karl und Anna Straub‘ auf dem Markt stand. Wenn Frau Straub zu ‚ihrer‘ Bank ging und da saß jemand, hat sie gesagt: ‚Das ist meine Bank, aber Sie dürfen gerne sitzen bleiben.‘ “

Wir lassen noch einmal Erika Seifried zu Worte kommen: „Er war ein begeisterter Angler und überall zu finden, wo es Seen gab und vor allem ein guter Fischbestand vorhanden war. Sein kapitalster Hecht wog 10 kg. Schmunzelnd erzählte er gern, dass er einmal von einem Feldhüter nach seinem Angelschein befragt wurde. Entweder hatte er den nicht dabei – oder er besaß gar keinen. Jedenfalls antwortete er schlagfertig : ‘Angelschien? Hm- dorup biet se ok nich.‘ “   

Mit zwei Begebenheiten aus dem Ratzeburger Straßenverkehr beenden wir die Geschichten von Karl Straub und werden, wie man sehen wird, von der Vorstadt in Ratzeburgs Mittelpunkt ankommen – jedenfalls beinahe. Ingrid Frederiksen: „In der Stadt wurde eine Einbahnstraße eingerichtet. Opa Straub fuhr natürlich wie immer mit dem Fahrrad in beide Richtungen. Auf Ermahnung der Polizei antwortete er: ‘Herr Wachtmeister, ich fahre hier 70 Jahre so, und das ändern Sie auch nicht mehr.‘ “

Die Verkehrsführungen werden ja in Ratzeburg hin und wieder mal geändert. Opa Straub fuhr bis ins hohe Alter mit dem Rad zu seinem Garten. Man sah ihn entweder die Schweriner Straße oder den Jägerberg hoch-, nein, nicht schieben, sondern fahren!

Auf dem Rückweg bevorzugte er wohl die steilere Variante, also die Jägerstraße. Es interessierte ihn nicht, dass mal wieder „seiner“ Strecke die Vorfahrt entzogen war und er also am Ende der Talfahrt auf die Vorfahrt der Schweriner Straße achten musste; das konnte natürlich gefährlich enden! Ein Ordnungshüter wies ihn auf die veränderten Regeln hin. „Herr Wachtmeister, . . .“ Das hatten wir ja gerade.

Wir sind gottlob heil auf den Königsdamm gelangt und können mit ein paar Geschichten von alten Ratzeburgern (Kapitel „Insel“) fortfahren.