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Stadtteil voller Leben: Vorstadt mit Dermin

ARCHIV_ALTE_RATZEBURGER_VORSTADTDer Ausschnitt des Stadtplans von 1931 zeigt uns, in welch starkem Maße sich das Bild  unserer Heimatstadt seither, insbesondere  seit 1945 verändert hat. Alte Ratzeburger aus  der Vorstadt würden  die Umgebung, in der sie gelebt haben, nur mit Schwierigkeiten wieder erkennen. Und wer heute in einer der hinzu gekommenen Straßen wohnt (z.B. in der „Neuen Heimat“), der soll sie mal einzeichnen!

In der Festschrift „750 Jahre Vorstadt – Dermin“, herausgegeben 1980 von der Stadt Ratzeburg,  schreibt Dr. Hans-Georg Kaack, damals Kreisarchivar des Kreises Herzogtum Lauenburg,  im Vorwort unter der Überschrift „LEBENDIGE GESCHICHTE – BEWEGTES LEBEN“: „Im Jahre 1230 läßt der Ratzeburger Bischof Gottschalk das Zehntlehenregister aufzeichnen, welches als die wichtigste Quelle für die Besiedlung des lauenburgischen Raumes und Teilen von Westmecklenburg gelten darf. ...  Dies bedeutet für alle (erwähnten Dörfer) eine wenigstens 750jährige geschichtliche Entwicklung.  Die Bezeichnung „Vorstadt Ratzeburg“, früher auch „Langenbrücker Vorstadt“, rechtfertigt keine Jubiläumsfeier, zumal auch kein festes Datum für diese erstmalige Benennung des geographischen Raumes östlich vor der Stadt, beginnend am anderen Seeufer, feststeht. Vom Burgfeld, also einer zur Burg auf der Insel gehörigen Feldmark, ist aber 1230 ebenso die Rede wie vom Dorfe Dermin, welches bald eingehen sollte, … . Nur der Begriff Vorstadt fehlt noch lange in den Quellen.

Dies soll aber nicht bedeuten, daß sich nicht die Stadt Ratzeburg, vornehmlich wegen der 750jährigen Wiederkehr der erstmaligen Erwähnungen des Burgfeldes und des verschwundenen Dorfes Dermin, welches bis heute noch seine namengebende Kraft bewahrt hat, in einer historischen Abhandlung und festlichen Tagen erinnern darf. In vielerlei Hinsicht war und ist der Stadtgrund östlich des Ratzeburger Sees in seinem bewegten Schicksal geschichtsträchtig und von lebendiger, umgestaltender Kraft, worin er der Stadtinsel kaum nachsteht.“ (Hervorhebungen d. Redaktion)

Das „Titelbild“ dieses Kapitels über Menschen in der Vorstadt zeigt den Wasserturm vor der Verkleidung und angrenzende Villen des Abrahamsberges, heute Hindenburghöhe. Das war ja immer ein Vorzeigebild des Stadtteils. Von seinem „volkstümlichen“ Teil berichtet uns ein Mann, den Isfried Hunstock (1923 – 2011, auch er ein alter Ratzeburger, lange Jahre Stadtvertreter und stellvertretender Bürgermeister, über Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts mit Haut und Haaren seiner Heimatstadt und ihrer Geschichte verbunden) im Nachruf in den „Lübecker Nachrichten“ 1987 so charakterisiert: „Fiete Schmidt ist tot. ... Ratzeburgs Stadtbild ist ärmer geworden. Jemand, der einfach dazugehörte, den man überall traf – er ist nicht mehr.  …  Fiete Schmidt war ein einfacher Mann. Außer seinen Kriegsauszeichnungen als schwerverletzter Meldegänger des Ersten Weltkrieges wurde er nicht ordensgeschmückt. Er hat aber in seiner mit Bescheidenheit gepaarten Fröhlichkeit vielen Menschen so viel gegeben. In den Herzen vieler 'Senioren' bleibt Fiete unvergessen.“

Friedrich Schmidt, Hausmeister der Kreisverwaltung, lebte mit seiner Frau Caroline in einer kleinen Wohnung in der Jägerstraße. Er war leidenschaftlicher Radfahrer. Besonders gut erinnert sich Erika Seifried geb. Rothländer an ihn. In Übereinstimmung mit Isfried Hunstock zeichnet sie uns das Bild eines stets freundlichen und hilfsbereiten Menschen, dessen ganze Liebe und Treue dem Männergesangsverein „Feierabend“ galt, in dem er über ein halbes Jahrhundert mitsang. Am Herzen lagen ihm aber auch die betagten Mitbürger: Mit seinem Humor unterhielt er sie besonders gerne, sei es bei der AWO oder im Heimatbund.

Erika Seifried hat uns Erinnerungen Friedrich Schmidts weiter gegeben, die er ihr kurz vor seinem Tod anvertraut hat:

„Fiete erzählte: Ich wollte schon immer erzählen, wie es in meiner Kindheit und Jugendzeit hier in Ratzeburg aussah.  …  Ich bin einer von den alten Ratzeburgern, der hier vor der Wende des letzten Jahrhunderts geboren und aufgewachsen ist. Ich habe alle Veränderungen unserer Inselstadt ganz bewusst beobachten können. Ratzeburg war damals eine kleine, stille und veträumte Stadt, aber es lohnt sich, darüber zu sprechen, weil es auch oft sehr lebhaft zuging."

Ich habe hier ein Foto vor mir liegen, das ein altes Fachwerkhaus in der Schweriner Straße zeigt. Wer erinnert sich noch daran? Ja, richtig, es ist das „Busekist'sche“ Bauernhaus mit Schankwirtschaft. Es stand auf dem kleinen Parkplatz genau gegenüber der Schmiede Hagen. Das alte Haus hat schon seine ganz eigene Geschichte. Es war nämlich Treffpunkt der Händler und Bauern, die sich zum Vieh- und Kramermarkt gern dort trafen. Es war ein sogenanntes „Ausspannlokal“, denn man fuhr ja mit den Pferden zum Viehmarkt. Vor der Tür standen an warmen Sommertagen Tische und Bänke, die immer schnell besetzt waren. Lustig und lebhaft ging es bei Busekist's zu. Drinnen residierte „Mutter Busekist“. Sie führte eine ausgezeichnete Küche, und sie gab reichlich und so gut, dass man immer wieder gern bei ihr einkehrte. Eine besondere Spezialität ihres Hauses war jedoch der Grog. Es wurde nicht mit Rum gespart. Keiner konnte weit und breit einen solchen Grog brauen wie „Mutter Busekist“. Sie war nie kleinlich und ließ die Rum-Flasche fast immer auf dem Tisch stehen. Sie wusste, dass man sich damit selbst bediente, und kalkulierte das in ihre Rechnung mit ein. -  Aber nicht nur Gäste wurden bewirtet, sondern es gab da noch das Pferdefuhrwerk, das Langholz aus den nahegelegenen Wäldern heran transportierte und zum Bötersteg auf die Insel beförderte. Dort wurde das Holz verladen und über den See nach Lübeck geschippert. Der 'Seetransport' hörte jedoch 1903 auf, denn die Kleinbahn übernahm die Transporte

Die Straßen waren mit Katzenköpfen gepflastert. Es gab ja damals kaum  Straßenverkehr, nur die wenigen Pferdefuhrwerke, so dass die Kinder ungehindert auf der Straße spielen konnten und die abschüssigen Straßen in Ratzeburg in den Wintermonaten vortreffliche Rodelbahnen abgaben. Es gab sogar Wettkämpfe zwischen den Kindern der Jägerstraße und den Kindern am Spritzenberg von der Insel. Das sollten die Kinder mal heute wagen!!

Ja, und der Vieh- und der Kramermarkt selbst? Zwei- bis dreimal war Viehmarkt auf dem Viehmarktplatz. Der Kramermarkt war immer zur gleichen Zeit und fand auf dem Marktplatz in Ratzeburg statt. Ich habe das noch in guter Erinnerung, denn ich sah mir das Leben und Treiben auf dem Marktplatz und dem Viehmarkt besonders gerne an. Auf dem Viehmarkt ging es nicht immer friedlich zu, beileibe nicht, denn das Handeln mit Ferkeln, Ziegen, Kühen und Pferden war eine hochinteressante Angelegenheit, insbesondere, wenn die Zigeuner mitmischten. Alle wollten eine gute Mark machen. Die Zigeuner hatten besonders wilde und ungestüme Pferde. Sie gingen mit ihren Tieren nicht gerade zimperlich um. Oft pfiff die Peitsche durch die Luft und klatschte den Pferden über den Rücken. Damals passierte auch der  M O R D ! Ja, Sie haben richtig gelesen. - So ganz heil war die Welt wohl doch nicht in Ratzeburg. Einer der Zigeuner hatte sich auf dem Kramermarkt ein hübsches Mädchen angelacht. Sie hatte aber einem anderen auch schon schöne Augen gemacht. So kam es dann zum Streit zwischen den Rivalen, der nicht nur mit den Fäusten ausgetragen wurde, sondern man griff zum Messer! Einer der jungen Kampfhähne blieb auf der Strecke. Das Grab des jungen Zigeuners gab es noch über viele Jahre auf dem Friedhof an der Seedorfer Straße. Ob es heute noch zu finden ist, kann ich nicht sagen. Das war damals eine Sensation in unserer kleinen Stadt und natürlich Gesprächsthema Nr. 1 in den Straßen und Häusern in Ratzeburg. Die Polizei war im Rathaus am Markt untergebracht. Ich meine, dass damals drei Beamte für Sicherheit und Ordnung zu sorgen hatten. Während des Vieh- und Kramermarktes war immer ein Beamter anwesend, denn es gab regelmäßig Querelen. So war es also angebracht, dass ein Polizeibeamter immer gleich zur Hand war, weil die Bauern, Händler und Zigeuner sich so häufi in die Wolle kriegten und es immer etwas zu schlichten gab. - Nach erfolgreichen Abschlüssen auf den Märkten wurde das gute Geschäft bei „Busekists“ kräftig begossen. Glaubt ja nicht, dass Ratzeburg immer nur ein ganz verschlafenes Nest war.Das Feiern und Skatkloppen hat man in den Wirtshäusern in alten Tagen gut verstanden.

Also dann: Bis bald! Tschüß! Euer Fiete“

Schade, dass wir nicht mehr interessante Geschichten aus dem alten Ratzeburg hören und lesen können! Zum Schluss soll noch einmal Erika Seifried zu Worte kommen: „Fiete hatte immer ein freundliches Wort auf den Lippen und hörte auch gern anderen Menschen zu. Er tröstete auch viele Menschen mit einem Wort von Otto Reutter: 'Nimm doch zum Trost, was es auch sei: In 50 Jahren ist alles vorbei.' Er zitierte den Humoristen Reutter häufig bei kleinen Veranstaltungen. Gekonnt trug er die heiteren, witzigen Verse vor und löste damit viel Fröhlichkeit bei den Zuhörern aus.“

Unseren Bericht über Fiete Schmidt können wir gar nicht besser beenden als mit Otto Reutter und seinem Couplet aus dem Jahre 1930: “Und in 50 Jahren ist alles vorbei“.    

Das Herrenhaus Dermin, die ursprüngliche Keimzelle des Dorfes, das schon  1230 in Gottschalks Zehntlehenregister genannt wurde. Über Lage und Geschichte des Dermins kann man bei Hans-Georg Kaack "Ratzeburg - Geschichte einer Inselstadt" (Wachholtz Verlag 1987).

Es ist ein so schöner Ort!

Die Gesamtanlage steht unter Denkmalschutz. Die letzten Bewohner und Eigentümer waren Frau und Herr von Lessel. Jahrhunderte zuvor gab es bemerkenswerte Besitzer, nachdem das ehemals selbstständige Dorf Dermin 1376 an das Domkapitel gelangt war, das das Gebiet zwischen den Fischteichen unterhalb der Straße nach Schwerin und dem Bach (später Kleinbahn-Einschnitt) vor dem heutigen Krankenhaus-Bereich 1501 an die Stadt verpachtete. Der in Ratzeburg berühmte Herzog Magnus hat um 1540 den Dermin vom Domkapitel gekauft. Herzog Franz II., Nachfolger seines Vaters Magnus, „übergibt am 12. Mai 1582 seinem Kammersekretär und Gerichtspräsidenten von Ratzeburg, Friedrich Äpinus 'wegen seiner getreuwen dienste . . . daß ackeruelt welchs für Ratzeburg zwischen dem Sehe und dem Schmilower wege belegen, undt der Dalmyn genant wirdt.' Äpinus hat im gleichen Jahr für die Stadt eine ausführliche Polizeiordnung geschaffen.“

In der bereits erwähnten Festschrift von 1980 beschreibt Hans-Georg Kaack, von dem wir diese Nachricht erfahren, weitere, nun z.T. ärgerliche Geschichten um Friedrich Äpinus.  „Der Fürst erlaubt seinem Kammersekretär, daß er auf dem Dermin einfache Gebäude errichten und Vieh halten darf. Sein Vieh kann die 'gemeine weide' der Stadtbürger mitbenutzen. Von steuerlichen Lasten wird Äpinus . . . befreit. Nur einen wehrhaften Mann zur Landesverteidigung muß auch er stellen.

Bereits nach drei Jahren erhebt sich Streit zwischen Äpinus und der Stadtgemeinde wegen deren Vieh- und Schweinehaltung, wodurch seine Saat und sein Korn in Mitleidenschaft gezogen werden. Weitere Streitpunkte werden erst durch eine genaue Grenzziehung geregelt, die 1588 erfolgt.“ Es folgt die exakte Beschreibung aus der Urkunde mit Erläuterungen, und dann fäjhrt Kaack fort: „In den ersten Jahren muß Äpinus seinen Acker von eigenen Gespannen bearbeiten lassen. Deshalb kann er auch keinen Überschuß erwirtschaften. Erst nachdem er 1592 zwei wüste Höfe in Schmilau erhält, zu denen zwei Hufen gehören, hat er die Möglichkeit, jene wieder zu besetzen und die Bauern für Hand- und Spanndienste heranzuziehen. Das Kaufgeld dafür sollen erst seine Erben erlegen.

Nach dem Tode von Friedrich Äpinus heiratet seine Tochter Elsebe den fürstlichen Kammersekretär Otto Chopius, Sohn des Ratzeburger Bürgers Otto Koop. Er kauft der Witwe Äpinus das Gut für 3500 Mark ab.Nach seinem Tode hat seine Frau von 1614 – 1658 als 'die Frau vom Dermin, ihres großen Vaters ebenbürtige Tochter', wie das Kirchenbuch festhält, den Hof durch alle Fährlichkeiten des 30jährigen Krieges gesteuert.“

Im Laufe der Jahrhunderte sieht der Dermin manchen Besitzer, Pächter, Verwalter, der mit wechselndem Glück sein Einkommen aus der  Landwirtschaft erzielt. Interessant ist die Inventarbeschreibung von 1776, denn darin wird ein „großer ausgeründeter Taufstein“ als Teil eines Springbrunnens erwähnt: Das ist die sog. „Smilower Döp“, an der wir uns seit einigen Jahren in der St. Georgsberger Kirche erfreuen. Interessant aber auch zu erfahren, welches Vieh ein neuer Pächter von seinem Vorgänger übernahm: 3 Ochsen, 2 große und 2 kleine Stiere – und 309 Schafe!

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also wohl kurz vor der Entstehung des alten unserer beiden Fotos, unterhält Frau von Soden zusammen mit ihrer Tochter im Hause Dermin ein Töchterpensionat; die lange Zeit der landwirtschaftlichen Nutzung ist vorbei.

Dr. Kaack berichtet schließlich von dem dänischen Kapitän und Kammerjunker von Bülow, Besitzer des Gutes Kogel, der dem Wohnhaus ein neues Gesicht gab, wie wir es heute kennen. - Unsere Erinnerungen an die Geschichte des Dermin mag Dr. Kaack beenden, nicht zuletzt, weil hier der Name eines alten Ratzeburgers auftaucht, den viele von uns oft in ihrem Leben aussprechen: „Die Derminer Feldmark bringt seit ihrem Erwerb (durch die Stadt) großen Nutzen für die Stadtbevölkerung und in der heutigen Zeit für die Erschließung von Bauland. In der Nähe hat in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts der Senator Hartwig Joachim Caspar Röper zwischen Derminer Grenze und Farchauer Ende ein Stück unfruchtbarer Sandfläche besessen, die die Stadt nach seinem Tode von den Erben 1842 kaufen und aufforsten kann. Der Name des letzten Eigentümers haftet bis heute an diesem Waldstück, welches Röpersberg genannt wird.

Nach so viel Information brauchen wir eine Pause: eine Pause, dazu ein wenig zu trinken, vielleicht auch zu essen – und vor allem eine angenehme, heitere Atmosphäre unter netten Menschen! Seit 1949 kennen viele Leute eine solche Stätte in der Vorstadt:

Helmuth („Europa“) Schipper mit Ehefrau und Sohn
(Foto: Hans-Jürgen Wohlfahrt)

Die Begrüßung im Schützenhof ist ausgesprochen freundlich: „Lach' doch mal wieder!“ sagt Klärchen Schipper, „Ich gebe auch einen Bärenfang aus.“ Von Bärenfang verstehen Klärchen und Helmuth Schipper etwas, denn es hat sie nach den schrecklichen Kriegsjahren aus ihrer ostpreußischen Heimat nach Ratzeburg geführt. Hin und wieder fährt „Europa“, wie er auch genannt wird, mit Freunden nach Polen, u.a., um Honig-Nachschub einzukaufen. Dabei ist es wohl einmal geschehen, dass beim Grenzübertritt in die DDR eine Milchkanne im Auto der Reisenden das Missfallen der kontrollierenden polnischen Beamten erregte. Sie wollten wissen, was sich darin befinde. Da hob Helmuth den Deckel ab, krempelte einen Hemdsärmel hoch und griff, so tief es ging, in den süßen, klebrigen Stoff! Nun wussten die Kontrolleure wohl Bescheid; wer aber hat denn wohl den Honig von „Europas“ Arm geleckt?

Der Name sagt es: Im Schützenhof war natürlich die Schützengilde zu Hause. Sie war viel älter als das Gebäude, nämlich 1551 gegründet. Und schon lange vor dem Ehepaar Schipper gab es Wirtsleute, deren Namen auf älteren Ansichtskarten erhalten sind, so z. B. E. Cohrs und H. Westphal (Karten von 1911 und früher). Immer haben sich wohl schon andere Vereine zu größeren Veranstaltungen hier im Saal getroffen, so etwa die Freiwillige Feuerwehr oder der Ratzeburger Sportverein, wie Hans-Jürgen Wohlfahrt, in einem Bericht der „Lübecker Nachrichten“ am 28./29. Mai 1987 schreibt: „Dort oberhalb des Ostufers vom Kleinen Küchensee, wo heute das Hochhaus „Am Steindamm“ mit dem benachbarten Wasserturm um Höhe konkurriert, befand sich auch bis zum Jahre 1967 der alte Schützenhof mit seinem ehemals lauschigen Schützengarten – Ort ungezählter rauschender Feste und Feiern der alten Ratzeburger.“ Und später muss er in seinem Pressebeitrag hinzufügen: „Am 13. Februar 1967 brannte die traditionsreiche Ratzeburger Gaststätte spätabends nieder.“

Aus dem Schützenhof wurde im Hochhaus das Restaurant „Europa Schipper“, ohne Saal jetzt, jedoch beliebt – wegen der Wirtsleute! Gerne begrüßte Helmut seine Gäste mit: „Was seid ihr heute doch wieder für hübsche Hunde!“ Später aber, mit zunehmendem Alter, konnte es auch gegenüber einer unermüdlichen Skatrunde heißen: „Habt ihr denn kein Bett zu Hause?“

Dolores Haß geb. Schipper half freundlicherweise mit den Bildern von ihrem Vater. Sie konnte aber auch eine kleine Geschichte von ihm erzählen, an die sich andere alte Ratzeburger auch erinnern: „Europa“ rauchte Zigarre. Bevor er sie jedoch anzündete, schüttete er sich ein wenig Rum in die hohle Hand und drehte das Produkt aus Mittelamerika (Zigarre) in dem Produkt aus Mittelamerika (Rum) und feuchtete eins mit dem anderen an, wodurch der Duft ihm höchsten Genuss verhieß!

Ratzeburg war ja immer eine Schulstadt, und so war es nicht verwunderlich, dass die Anzahl der Mädchen und Jungen in den Bildungsanstalten der Stadt nach 1945 sprunghaft anstieg. Die Volksschulen (Grund- und Hauptschulen) waren zunächst in zwei ehemaligen Kasernen untergebracht: die Mädchenschule (zeitweile „Insel-Volksschule“) in der alten Dänen-“Baracke“ am Ende der Schrangenstraße, die Knabenschule in der Stadtkaserne, an der Stelle, wo wir heute das Kreisverwaltungs-Gebäude finden. Der alte Hausmeister Skiba von der Insel-Volksschule heizte im Winter jeden Morgen vor dem Unterricht 18 Öfen! Als jedoch in den 50er Jahren der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte, konnte man endlich auch neue Schulbauten planen. 1957 wurde die Vorstadt Standort für eine neue Grund- und Hauptschule (die übrigens nach nur eben 50 Jahren abgerissen und 2013 durch eine neue Gemeinschaftsschule ersetzt wurde)!

10. April 1957

Das Kollegium 1957 (jeweils von links): die Damen Müller, Schlieckriede, Bünger, Schlabes; die Herren Marquard, Stribrny, Höhne, Sünnemann, Kuckel, Prillwitz, John, Koske, Wehrmeister, Kähler, Bahrs.

Natürlich erinnert sich jede(r) an die Lehrerin oder den Lehrer der eigenen Kindheit (hoffentlich zumeist positiv!). Herausgehoben werden hier aber doch ein paar Herren, die bis auf unsere Zeit im „Stadtgedächtnis“ ihren Platz gefunden und ihn sicher lange behalten werden: Zunächst ist Wilhelm Prillwitz zu nennen, engagierter Heimatforscher und langjähriger Betreuer des Stadtarchivs. Auf Emil Kähler ist schon im Zusammenhang mit Helmut Schipper hingewiesen worden: langjähriger Vorsitzender des Ratzeburger Sportvereins. Jochen Koske war Kantor an der St. Petri-Kirche.

Unvergessliche Verdienste um die Ratzeburger Schützengilde, den Verein Vorstädter Bürger und damit um seine geliebte Heimatstadt hat sich Friedrich (Fritz) Bahrs erworben.

Seit 1866 ist Ratzeburg preußische (davor dänische) Garnisonsstadt. In dem Jahr verfügte der preußische König die Aufstellung des Lauenburgischen Jägerbataillons Nr. 9 mit Sitz in Ratzeburg.

Unter “Vadder Gluth“ wird über die Schlacht bei Gravelotte 1871 berichtet.

Die Unterbringung der Soldaten erfolgte
zunächst in Privatquartieren, nach einigen Jahren in der Domkaserne und in der Stadtkaserne, ab 1914 vor allem in der Belowkaserne in der Vorstadt, die ihren Namen nach einem Armeegeneral bekam und die wir heute noch als Unterkunft der Bundespolizei (ehemals Bundesgrenzschutz) kennen und oft mit ihrem Namen benennen.

Lag es an der Zeit, lag es an der ersten Ein Einquartierung? Fest steht, dass die neuen Mitbürger“ sofort und in alle Zukunft in der Inselstadt willkommen waren und sind. In den Erzählungen alter Ratzeburger (z.B. bei Karl Pechascheck) ist ständig  die Rede von „unseren Jägern“.

In einer Garnisonsstadt kennt man immer Geschichten, die sich um das Leben der „Landser“, der „Jäger“ drehen. Auf dem martialischen Foto von einer Übung der Soldaten vor der Domkaserne ist natürlich nicht zu erkennen, dass wir uns hier nicht in Preußen, sondern in Mecklenburg-Strelitz befinden! Die Uniformen sagen es uns auch nicht, denn es sind ja Lauenburgische Jäger. Die Kopfbedeckungen können es verraten, denn die (kleinen runden) kokarden daran weisen die Farben Mecklenburg- Strelitz aus! Ordnung muss sein!

Eine der bekanntesten alten Geschichten ist  die vom Tannenbaum: Der Förster vom Weißen Hirschen (Abzweigung nach Salem) machte aus irgendeinem Grunde Schwierigkeiten bei der alljährlichen Lieferung eines Weihnachtsbaumes. Von Stund an wurde ihm jedesmal, wenn die Jäger von einer Übung in der Salemer Heide zur Kaserne zurück marschierten, ein Ständchen dargebracht: Die Abteilung machte vor dem Försterhaus Halt und schmetterte: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!“

Auch von der Schießanlage im Hundebusch (Richtung Seedorf) gibt es sicher Geschichten, die ehemalige Jäger erzählen könnten.

Dem Bataillon wurde ein Postenhund zugeteilt („Rome'“ nannten sie ihn.), der sogar irgendwann zum Gefreiten befördert wurde. Er war wohl sehr tüchtig, denn nach seiner Außerdienststellung übernahm ihn die Hamburger Polizei.

„Frisches Blut nach Ratzeburg“ - und dies ist nun durchaus eine ernsthafte Sache. Mancher Lauenburgische Jäger hat in Ratzeburg sein neues Zuhause gefunden, und zwar „der Liebe wegen“! Man erzählt sich – und kann es beweisen – dass der eine oder andere flotte Musketier  bei den Bürgerstöchtern (und wegen der späteren Versorgung wohl auch bei deren Eltern) durchaus willkommen war. Und die „Blutauffrischung“ war ja mit Ende der Jäger-Zeit durchaus nicht zu Ende: Einer der Vorteile einer Garnison!

Von den ersten Erfahrungen des Jägerbataillons „auf dem Felde der Ehre“ im Krieg gegen Frankreich 1870/71 ist etwas im Kapital über „Vadder Gluth“ nachzulesen. Größer waren die Verluste an jungem Menschenleben im Ersten Weltkrieg 1914-1918: 2793 Oberjäger und Jäger, dazu 80 Offiziere vom Feldbataillon, Reservebataillon und vom 18. Jägerbataillon ließen ihr Leben, 2873 junge Menschen! An einen soll erinnert werden.

In Ratzeburg gibt es, wie überall in Europa, Mahnmale für die Kriegsgefallenen, eines davon steht auf dem Röpersberg, im Anschluss an die Kleingarten-Kolonie.

Nach dem Zuweg durch eine Allee gelangt man zu dem Hügel, um den herum fünf  Steinquader stehen, jeder für ein Kriegsjahr, jeder mit einem Kreuz versehen, daneben links und rechts die Namen der Gefallenen aus Ratzeburg. Wir schauen auf die linke Seite und lesen u.a. W. SEIDLER. Hier sind sein Bild und seine kurze Lebensgeschichte:                                                                 

Walther Seidler wurde im Jahre 1900 in Ratzeburg in der Schrangenstraße geboren. Seine Schwester wohnte in ihrem kleinen Haus in der Schweriner Straße (heute Nr. 16). Das Bild befindet sich im Besitz von Herrn Harry Dieter, dem Enkel von Seidlers Schwester, der es uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Im Sommer 1918 verlor der junge Ratzeburger Jäger in Frankreich sein Leben. Geburtsurkunde wie Sterbebenachrichtigung sind im Stadtarchiv nachzulesen.

 „Krieg“ - das hieß und heißt vor allem, dass vielen jungen Menschen der Großteil ihres Lebens gestohlen wird. 1870/71 – 1914 bis 1918 – 1939 bis 1945: Wie vielen jungen Ratzeburgern hat der gewaltsame Tod es versagt, „alte Ratzeburger“ zu werden? Wie viel Leid für Mütter, Ehefrauen oder andere liebe Menschen?