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Archivale 01/2016 - Aus dem Nachlass eines ehemaligen Ratzeburger Seminaristen

Die Geschichte des Ratzeburger Lehrerseminars ist in unseren ,,Archivalien des Monats (06/2013)" bereits thematisiert worden.

Vor kurzem erhielt das Stadtarchiv Unterlagen aus dem Nachlass des ehemaligen Ratzeburger Seminaristen Franz Böge (1904-1989). Die Aufzeichnungen, Hefte und Zeichnungen geben uns einen Einblick in das Leben der Seminaristen zwischen der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Inflationszeit.

Franz Böge wurde 1904 im damals noch preußischen Altona geboren und besuchte nach der Mittleren Reife in Ratzeburg ab Ostern 1919 zunächst die Präparanden-Anstalt und dann von Ostern 1921 bis 1924 das Lehrerseminar, das er mit der Ersten Lehrerprüfung abschloss.

In den 1970er Jahren hat Franz Böge seine Lebenserinnerungen zu Papier gebracht. Darin blickt er auch auf seine Ratzeburger Zeit zurück:

„Wir wohnten zu Sechsen in drei Zimmern der ‚Pension Wilken‘ in der Großen Kreuzstraße. Das stattliche mehrstöckige Gebäude hieß allgemein nach seinem Turm ‚die Zwiebelburg‘ […] Das Ehepaar Wilcken (Zimmermeister war er!) sorgte auch für unsere Verpflegung. Es war eine magere Zeit Anno 19, und wir standen oft hungrig vom Tisch auf. Als der Baltikumer Oberleutnant Roßbach seine Fahne auf dem Ratzeburger Marktplatz verbrannte und seine Freikorpsmänner entließ, war ich unter der schaulustigen Menge. Mein Frühstück war wie immer kärglich gewesen, - plötzlich lag ich ohnmächtig auf dem Pflaster. Man stellte mich auf die Beine, ich rannte auf meine ‚Bude‘, kratzte den Schimmel von einem geerbten und noch aufgesparten Brotknust, aß den harten Kanten zu einem Glas Wasser auf – und nahm meinen Platz auf dem Markt wieder ein.“

Noch schwieriger wurde die Lage im Jahr 1923, als die Inflation in einem unvorstellbaren Tempo an Fahrt aufnahm und die Unterhaltssumme für die Ausbildung am Seminar von den Eltern kaum noch aufzubringen war:

„Ich schränkte mich aufs Äußerste ein. Einen Monat lebte ich nur von Brot und Margarine, das Getränk bereitete ich mir in der Röhre des Kachelofens. Mein Budenkollege, der gute Hein Lauff, unterstützte mich ab und zu mit einem Rest Bratkartoffeln aus heimatlichen Vorräten, unsere damalige liebevolle alte ‚Vizemama‘, bei der wir wohnten, half uns beim Braten, aber si selbst litt ja genauso not. Vater war, als er davon erfuhr, beunruhigt über meine Hunger-Experimente. Er versorgte mich so gut es ging, mit Hülsenfrüchten und Haferflocken aus Hamsterfahrten. Jetzt trug ich, aus den Ferien kommend, Spankörbe statt des Geigenkastens. Und das vorübergehende Essen in der HERBERGE ZUR HEIMAT, bei dem wir uns manchmal buchstäblich die Nase zuhielten, konnte aufgegeben werden.“

Über die Unterrichtsmethoden schreibt Franz Böge:

„Der ganze Unterricht an Präparandeum und Seminar wurzelte trotz Revolution und Reform wie eh und je in altpreußischer Tradition. Wir besuchten eine richtige alte Lernschule, die uns zwar eine Menge ‚allgemeiner Bildung‘ einpaukte, uns aber wenig ‚Denken, Diskutieren, freies Reden’ beibrachte. Nur ‚Unterrichten‘, das lernten wir aus dem Effeff! Jede Stunde war schriftlich vorbereitet, jeder Stundenablauf in der Seminarschule wurde beaufsichtigt, und bei den ‚Probelektionen‘ kritisierte die ganze Klasse samt dem zuständigen Fachlehrer.“

Außerhalb des Unterrichts trieb der Seminarist viel Sport und stand „in der ersten Fußballmannschaft des Sportclub Ratzeburg zwischen den Torpfosten und kämpfte mit einer Elf, die aus Bürgern; Reichswehrsoldaten und Seminaristen bestand, auf vielen Plätzen zwischen Kiel, Lübeck, Segeberg und Mölln, obgleich das Debut als Keeper der 2. Mannschaft mit einer Niederlage von 2:16 nicht ruhmreich ausgefallen war. Zuschauer rieten mir, am Torpfosten eine Strichliste der kassierten Einschüsse zu führen, um mein Gedächtnis zu stützen!“

Geschwommen wurde in Ratzeburg bei dem legendären Bademeister „Vadder Gluth“, „so ausgiebig, dass der weißbärtige Veteran von 70/71 jedesmal ‚die Herren von das Seminar raus mit die Beine aus das Wasser‘ jagen musste.“


„Sonntags ging es auf heimatliche Exkursionen, an Wochentagsabenden zu den mannigfachen Vorträgen im Bürgerverein, zu Konzerten, zu Theateraufführungen, als aktiver Tenorsänger zu den Übungen der Liedertafel, als Turner in die Halle des M.T.V. Und später als Hospitanten, als zukünftige Religionslehrer, auf die Empore beim Kindergottesdienst (offen gesagt, zu 50% aus Interesse, zum andern Teil, weil es in der Inflationszeit auf der eigenen Bude zu kalt war, in der Kirche aber schön warm!)“

Das Zeichnen, das dem Seminaristen Franz Böge schon seit der Kindheit gelegen hatte, wurde während seiner Ausbildung weiter gefördert und auch zur Unterhaltung eingesetzt:

„Einige Kameraden wurden von mir damals schon in Vers und Karikaturen ‚auf den Arm genommen‘, noch sehr primitiv und kindlich, aber es war der Anfang meiner Pegasusritte, deren –zigtausend Reime und vielen Bilder in geselligen Kreisen vielen Freunden Spaß bereitet haben.“

 

Zahlreiche Beispiele dieser Zeit sind in einer Mappe mit Karikaturen seiner Lehrer und Mitschülererhalten. In einem Heft sind Spottgedichte erhalten und eine Sammlung von Federzeichnungen mit Ratzeburger Motiven, die der Seminarist 1922 für seine Mutter angefertigt hat. Die im Nachlass vorhandene „Bier-Zeitung“ (1921) und die „Bergfest-Zeitung“ von 1922 sind offensichtlich maßgeblich von Franz Böge mitgestaltet worden.

Nach der bestandenen Lehrerprüfung gab es zunächst keine Aussicht auf eine entsprechende Anstellung an einer Schule. Letztendlich wurde Franz Böge aber doch Lehrer und unterrichtete bis 1972 an verschiedenen Hamburger Schulen.