1945 – 2020: Seit 75 Jahren leben wir in Frieden! Wir erinnern uns an den Krieg, an sein Ende und die ersten Jahre danach – wenn wir denn so alt werden durften, dass die Erinnerungen Raum in unserem Denken bewahren können.
Mein Name ist Hans-Joachim Höhne, geboren im Januar 1932, aufgewachsen in Ratzeburg (genauer: auf dem St. Georgsberg), seit 1939 wohnhaft in dieser unserer schönen kleinen Stadt. Ich werde erzählen, wie ich das Ende des Krieges und die erste Zeit danach erlebt habe. Aus vielen Berichten, auch aus Filmdokumenten in Kino und Fernsehen können wir erfahren, welches Leid das Völkermorden über die Menschen, auch über die Kinder gebracht hat. Bomben haben Städte wie Dresden, Hamburg , Lübeck, Coventry, London und andere in Schutt und Asche gelegt, Flucht und Vertreibung entwurzelten Millionen.
Wir aber lebten in Ratzeburg, in einer weitgehend heilen Welt. Bomben? Wir sahen den Schein der Flammen über Hamburg, Ausgebombte suchten hier Unterkunft. Mich weckte nicht einmal ein Einschlag in einer Buche neben dem Finanzamt, ich wunderte mich nur über die zerbrochenen Fenster im Schlafzimmer – und konnte am nächsten Morgen mit der Schottschen Karre Feuerholz für uns holen. Eine zweite verirrte Bombe lud ein andermal bei schönem Sonnenschein die Menschen zu einem Besichtigungsgang in die Lübecker Straße ein: In einem Vorgarten gab es einen Krater zu bestaunen, der wohl 2 m im Quadrat und knapp 1 m tief war. Wir sahen abends den Schein der Flak am Himmel über Lübeck und sammelten die Stanniolstreifen, die von anglo-amerikanischen Fliegern abgeworfen waren, um die Abwehr zu irritieren. Und in den letzten Kriegstagen beobachteten wir die Spitfires und Hurricans, die im Tiefflug „Scheibenschießen“ auf unseren Bahnhof und die etwa 6 Wasserflugzeuge veranstalteten, von der deutschen Luftwaffe auf dem Küchensee bei Waldesruh „abgestellt“.
In unseren Jungen-Spielen gab es natürlich auch Kriegerisches: Es waren wohl die alliierten Bomberverbände, die tagsüber Richtung Berlin zogen, die uns zu Schießübungen veranlassten. Wir schossen mit unseren Katapulten („Katschis“) auf Spatzen- oder Starenschwärme, gottlob ohne Erfolg. Zu Weihnachten bekam ich ein Blechspielzeug, ein Schlachtschiff. Das ließ ich an einem Frühlingstag auf einer großen Pfütze vom Stapel – und bombardierte es, diesmal mit Erfolg! Wir kannten ja auch friedliche Spiele. Beliebt war eine Zeitlang „Kibbel Kabbel“, das hatte Freund Jockel aus dem zerstörten Hamburg nach Ratzeburg mitgebracht
Trecks mit Flüchtlingen, vor allem natürlich aus Mecklenburg und Pommern, zogen die Bahnhofsallee hoch, machten wohl auch Pause auf dem Markt oder auf dem Domhof. Meine Großeltern, die den „Grünen Jäger“ an der Ecke Lübecker Straße bewirtschafteten, nahmen Flüchtlinge auf.
Schulunterricht gab es für einige Monate nicht, nachdem unsere Klasse vorher in „Wittlers Hotel“ untergebracht war, denn die Schule wurde als Lazarett benötigt. 13 Jahre alt und monatelang „Ferien“ - was konnte schöner sein? Uns kümmerte es nicht, dass wir ein ganzes Schuljahr verloren.
Und dann kam der 2. Mai 1945; nachmittags saßen meine Mutter mit meinem kleinen Bruder, meine Großeltern und ich in der Gaststube des „Grünen Jägers“, als die ersten britischen Soldaten auf Krädern die Bahnhofsallee herunter kamen. Glücklicherweise waren die Panzerfäuste verschwunden, die eine kurze Zeit gegenüber auf dem „Grünen Berg“ gelegen hatten, Die „Tommies“ waren da! Man erzählte uns, dass die motorisierte Einheit in Wartestellung oben am Fuchswald stand. Meine Neugier war groß: „Ich geh mal gucken.“ Das mütterliche Verbot half nicht, ich ging. Und da saßen sie bei herrlichem Wetter auf ihren gepanzerten Fahrzeugen, rauchten ihre Zigaretten, froh, dass der Wahnsinn ein Ende hatte. Ein 13jähriger Kerl stand staunend da und suchte Kontakt. Er fand ihn; Ein Soldat hatte sein Fahrzeug mit einer Blume geschmückt. Da gab es folgenden erstaunlichen Dialog: Boy: „What a beautiful flower!“ Soldier: „Tell me, boy, is Hitler really dead?“ Boy: „Yes, yes!“ Man sieht, es lohnt sich, eine Fremdsprache zu lernen, ebenso wie es vorteilhaft ist, sich politisch in neuesten Ereignissen auszukennen. Right?
Wir Kinder hatten zu den jungen Soldaten ein gutes Verhältnis. Bob, Frank, Robert. Sie alle waren glücklich, den Krieg gesund überstanden zu haben und bald nach Hause zurück zu kommen. „Fraternisation“, also der Kontakt zu Deutschen, war zwar verboten, Kinder zumindest waren aber ausgenommen. Und nicht nur Kinder! Wer sollte denn den armen boys die Wäsche waschen? So klopfte es in einem heimlichen Augenblick wohl an unsere Haustür – davor ein soldier mit seiner Schmutzwäsche. Die Arbeit hatte dann Mutter, die Freude hatte die Familie. Gleich wurde im Wäschekorb bis auf den Boden gegrabbelt: Kaugummi, Schokolade, Zigaretten und vor allem Bohnenkaffee kamen zutage: Es war wie Weihnachten!!!
Nun aber war Sommer 1945. Lebhafte Erinnerungen verbinden sich mit unseren Seen. Wir bauten uns z.B. aus jeweils sechs 20-l-Benzinkanistern je ein Floß pro „Seemann“; woher wir Paddel hatten, weiß ich nicht mehr, Kabel zur Montage fanden sich. 6 – 10 „Schiffe“ genügten für eine zünftige Seeschlacht. - Reinhold Lüdemann , 4-5 Jahre älter als wir, lernte bei Wiegers Schlosser. Er baute aus einem der zerschossenen Wasserflugzeuge auf dem Küchensee einen Tankbehälter ab und stellte daraus ein Paddelboot her, das er meinem Freund Walter Stage und mir schenkte. Das war ein tolles Gefährt, wenn man erst drin saß und über den See huschte, vorausgesetzt, man rollte beim Einsteigen in das zigarrenrunde Schiffchen nicht in einer Eskimorolle herum und ins Wasser.
Walter und ich besorgten ein neues Boot. Uns wurde erzählt, dass in Buchholz eine Reihe von Schlauchbooten lag, die niemandem gehörten. Wir also hin, eins der noch heilen Boote geschnappt und an unseren Steg (!) gepaddelt. Tatsächlich, wir hatten uns kurz vor der „Himmelswiese“ einen Steg gebaut. Dazu muss ich erklären, woher wir das Baumaterial „besorgt“ hatten: Am Ende des Krieges war der landwirtschaftliche Verlag „Pflug und Feder“ in Berlin ausgebombt und begann 1944 mit dem Neubau am „Hufeisen“, einer Nebenstraße des Rensemoors. 1945 war's dann mit dem Bau vorbei, und die Baumaterialien waren, wie so vieles, gewissermaßen herrenlos. Wir trugen Bau-Leitern und Bretter die Lübecker Straße, durch den Wald, den Berg hinab zum Moor, unseren trocknen Geheimweg zum Seeufer. Passende Erlen wurden gefällt und zurecht geschnitten, dann stückweise bis zur Schilfgrenze „eingerammt“; sie trugen unseren Steg. Es gab auch eine Hütte für uns, denn die Ratzeburger Fischer hatten im Winter Reet geschnitten und bis zur Abfuhr um eine Erle herum aufgestellt. Mehr brauchten wir nicht. Walter besaß einen Esbit-Kocher, mit dem wir eine Art von Tee herstellten. So hatten wir es gemütlich nach dem Bad mit dem Tee. Man mag es mir glauben oder nicht; Es gab bei uns auch eine Toilette! Ob es so etwas heute noch gibt: zu unserem „Donnerbalken“ begaben wir uns per Schiff, weil wir ihn in einigem Abstand mitten im Schilf errichtet hatten. - Das ging einige Wochen prächtig, bis: Eines Tages war das Schilf abgeholt, der Steg demontiert und das Boot weg! Bleiben zum Schluss eine Anmerkung und eine Frage: Das Schlauchboot war gelb; woher hatten die Fischer bald gelbe Arbeits-Schürzen?
So endete unser größtes Jungen-Abenteuer in diesem außergewöhnlichen Jahr 1945. Die Schule (Städtische Mittelschule) nahm ihre Arbeit wieder auf, die „Nachkriegszeit“ begann. Die geschilderten Erinnerungen mögen uns heute erfreuen, die Ereignisse, die zu ihrem Zustandekommen geführt haben, dürfen sich niemals mehr wiederholen.